Dienstag, 12. September: Der Tag vor dem
Start
14.48 Uhr, Schweriner
Bahnhof: Horst Preisler steigt aus dem Hamburger Zug und wird von Dietrich
Barthel begrüßt. Zu diesem Zeitpunkt sind Ingrid und Horst Schwarz-Linek mit
ihren Fahrrädern bereits unterwegs nach der Gemeinde Teschow, in deren
Küstenbereich am kommenden Tag der Start erfolgen soll. Das Unternehmen Grenzlauf 2000 „Mitten durch
Deutschland“ hat unwiderruflich begonnen. Nun ist das ernst, was zunächst verrückte
Idee war und später handfestes Konzept mit detaillierter Vorbereitung wurde. 17.00 Uhr ist die Abfahrt zum
Startort geplant. Dieters Frau Ingrid
hat extra ihre Kinderarztpraxis eher zugemacht, um uns nach Teschow zu bringen.
Zuvor aber schneit noch der Rundfunk herein, nachdem sich Presse, Fernsehen und
Agenturen bereits den ganzen Tag über den Telefonhörer gegenseitig in die Hand
gaben. Klaus Krüger vom NDR will es für seine Hörer genauer und direkter
wissen. Wie wir am kommenden Tag auf unserer ersten Strecke erleben werden,
hatte das Interview seine Wirkung auch nicht verfehlt: „Das sind die doch aus
den Nachrichten. Alles Gute“. Ähnliches werden wir auf den Etappen immer wieder
hören. Horst P. (wir nennen ihn künftig so zur Unterscheidung von
Horst SL) hat seine erste Bewährungsprobe erfolgreich bestanden: seine Sachen
haben tatsächlich Platz gefunden im eng begrenzten Raum zweier Fahrradtaschen
Marke Ortlieb, die jedem der vier Teilnehmer zugestanden werden, eine große
fürs Hinterrad und eine kleinere für das Vorderrad. Fast pünktlich starten wir
nach Teschow. Ein bißchen komisch ist es schon. Für drei Wochen oder mehr auf
Reisen gehen, das ist nichts sonderliches, aber für diesen Zeitraum nur auf die
eigenen Füße bzw. Fahrräder angewiesen zu sein, um irgendwo an einem noch
unvorstellbar weit entfernten Ziel anzukommen? Da kommt nicht nur Vorfreude
auf, sondern auch ein mulmiges Gefühl vor der eigenen Courage. Im Ferienhof Seiler erwarten uns schon Ingrid und Horst SL.
Quartier beziehen in einer gemeinsamen Ferienwohnung, Gepäck verteilen und ab
geht’s nach Dassow in die „Alte Sattlerei“, in die uns Ingrid zum
Abschiedsschmaus eingeladen hat. Hier hat sie auch eine Überraschung bereit:
Sohn Volker, der auch die Internetseiten installierte, hat vier T-Shirts
gestaltet und bedruckt mit unserem Streckenlogo und unserer Internet-Adresse www.grenzlauf.de. Sie werden natürlich sofort
übergezogen, wie an den folgenden Abenden in den jeweiligen Etappenorten auch. Zurück geht’s nach Teschow. Vom Balkon sehen wir in nächster
Nähe die Lichter von Lübeck-Travemünde. Die konnten ehemals nur einige
Grenzposten sehen. Hier war die Welt für den DDR-Bürger schon längst zu Ende.
Inzwischen hat sich Familie Seiler aus dem Niedersächsischen inmitten der
Felder eine neue Existenz gegründet mit Landwirtschaft, Pferden, Ferienhof. Das
Richtige für einen Urlaub in der Einsamkeit nicht fern von der Betriebsamkeit
der Großstadt. Ein letzter Abschied von
Ingrid, der Weg nach Hause ist endgültig für die nächsten drei Wochen abgebrochen.
Was werden sie uns alles bringen? Mittwoch, 13. September: Start an der Ostseeküste
Spitzenstein/Teschow – Büchen, 72
km (Gesamt: 72 km) 6.30 Uhr klingelt der Wecker wie an den
kommenden 20 Tagen auch. Die 2 ½
Stunden bis zum Start um 9.00 Uhr werden sich auch in den kommenden
Wochen als ausreichend aber auch notwendig erweisen. Nach morgendlicher Toilette und der
obligatorischen Qual bei der Wahl der wettergünstigsten Laufbekleidung stehen
wir nun unaufschiebbar vor dem Problem des letzten Packens. Vieles läßt sich ja
zusammenpressen, aber die Bananen? Jeder hatte sie reichlich mitgebracht, um
das ganze Team zu versorgen. Aber außer den acht (!) Fahrradtaschen und zwei
Lenkertaschen hatten Schwarz-Lineks noch vorsorglich einen Rucksack
mitgebracht, und Stoffbeutel gabs ja schließlich auch noch. Es galt aber
nunmehr die Regel: keine weiteren Bananen mehr, bevor der Vorrat nicht vertilgt
worden ist! Nun muß noch alles auf die Räder. Zwar
vorher geübt, aber bei dem Gewicht und den zusätzlichen Gepäckstücken dann doch
ein Problem. Etwa 20 bis 25 Kilogramm an Gepäck müssen pro Fahrrad
transportiert werden, und das eben nicht nur auf asphaltierten und vor allem im
weiteren Verlauf nicht gerade flachen Wegen. Aber auch diese Arbeit ist
schließlich geschafft. Wie erfolgreich sie ist, wird uns die Strecke lehren.
Doch nun verlangt der Magen sein Recht. Das Startfrühstück ist fürstlich und
gemütlich in der guten Stube bei Seilers. Horst P. haut rein, das Frühstück ist
für ihn wichtiger als die Streckenverpflegung. Dieter stehen zwei Brötchen wie
immer vor einem Start schon fast in Höhe der Unterlippe. Er verläßt sich lieber
auf seinen Haferschleim, den er nun täglich selbst für seine Trinkflasche
herstellen muß. Schwarz-Lineks hoffen neben dem mitgenommenen Proviant auch auf
den einen oder anderen Bratwurststand am Wegesrand. Doch daraus ist in den drei
Wochen dann wohl nie etwas geworden. Bevor wir die gastliche Stätte
verlassen, übergeben wir Seilers als Erinnerung an unseren Grenzlauf eine von
uns unterschriebene Urkunde mit dem Streckenlogo, das wir auch wie Startnummern
auf der Strecke tragen. Während des Laufes werden wir diese Erinnerungsblätter
an die Bürgermeister, Quartiereltern und Lauffreunde übergeben, die uns
begleiten oder betreuen. Der jeweilige Etappenort erhält auf dem Blatt einen
roten Punkt. Wir haben nur zu gern diese Punkte ausgemalt, brachte uns doch
jeder neue um einen Punkt näher an das Ziel heran. Der Himmel zeigt sich zunächst aber leider nur für kurze
Zeit freundlich. Etwa einen Kilometer auf einem Feldweg haben wir noch
nordwärts zum Start. Wir müssen diese Strecke nicht allein zurücklegen. Der
Schweriner Oberbürgermeister Johannes Kwaschik ist gekommen. Den Termin hatte
er im Kalender dick unterstreichen lassen, weil er die private Aktion zu einem
gesellschaftlich denkwürdigen Anlaß als so wohltuend aber leider zu selten
praktiziert empfand. In unserem Gefolge Fahrer Pickert, der den Audi seinem
Chef und uns hinterher durch Pfützen und über Huckel bugsiert, und Katrin
Hofmann, die Schnappschüsse für den Schweriner „Stadtanzeiger“ braucht. Sie ist
nicht die einzige Journalistin vor Ort an diesem Morgen in der sonst
menschenleeren Idylle. Überall klicken Fotoapparate, Probe muß gelaufen werden für
ein gutes Bild, eine NDR-Fernsehkamera umkreist unsere Waden mit der dazu
gestellten Frage „Was kann solche Waden bewegen, eine solche Strecke auf sich
zu nehmen?“ Wir beantworten diese Frage natürlich gern. Schließlich geht
es darum, unser Anliegen öffentlich zu machen, nicht nur Kilometer
herunterzukloppen, sondern ein persönliches Zeichen notwendiger Erinnerung zu
setzen an den denkwürdigen Wiedervereinigungstag, der sich in diesem Jahr zum
zehnten Male jährt. Wir ergänzen unser Anliegen mit dem aktuellen Appell
„Miteinander statt Intoleranz“ auf unseren Rücken. 20 Minuten verspätet starten wir. Noch einmal wartet das vorausgefahrene Fernsehteam in Teschow auf
uns. Dann sind wir allein. Das heißt nicht ganz, denn aus dem nahen Lübeck hat
sich Werner Zeller zu uns gesellt. Er hat die Laufschuhe mit dem Fahrrad
getauscht und will uns bis Ratzeburg begleiten. Er kennt interessante Wege, die
aber nicht unbedingt die kürzesten sind und die den Grundstock dafür legen, daß
auf der Etappe nicht die geplanten 60 sondern 72 Kilometer zu bewältigen sind.
Aber ähnliches werden wir noch des öfteren festzustellen haben. Schließlich
sind aus den vorgesehenen 760 Kilometern auf unserem Grenzlauf bis zum
Dreiländereck 816 geworden, also über
eine Marathonlänge mehr. Zum ersten Mal kommen wir mit dem ehemaligen Grenzregime in
Selmstorf in Berührung. In Sichtweite stehen auf dem heutigen Gewerbegebiet die
Anlagen des Grenzüberganges auf dem Transitweg von Lübeck-Schlutup zum
Überseehafen in Rostock. Bardowiek ist ein nächstes und trostloses Relikt deutscher
Teilung. Nur noch ein Telegraphenhäuschen und ein Schriftzug erinnern daran,
daß hier ein Dorf geschleift und geopfert wurde, um die Undurchlässigkeit der
Grenze zu garantieren. Wieviele persönliche Schicksale werden damit verbunden sein?
Dieser Bericht wird auch im Folgenden oft nur Fragen stellen können. Für
gründliche Recherche fehlte natürlich die Zeit. Aber gestellte Fragen sind oft
ja schon die halbe Antwort, für diejenigen, deren Interesse damit geweckt wird. Und wieder ein Grenzübergang. Vor den Toren Lübecks hielten
in Herrnburg die Züge aus Richtung Rostock und Schwerin zur gründlichsten
Kontrolle der Reisenden. Noch immer haben wir Mecklenburg-Vorpommern, also die
ehemalige DDR nicht verlassen, sondern
uns nur im ehemaligen 5-km-breiten „Schutz“streifen der Grenze bewegt. Einen
Vorteil hatte er ja doch für die DDR-Bürger: ihnen wurde der unerträgliche
Anblick dessen erspart, was ein Staat
mit Gründlichkeit, Menschenverachtung
und materiellem Aufwand ersinnen konnte, um seine Bewohner am Weglaufen zu
hindern. Etwa 20 Kilometer sind
gelaufen, da entscheiden wir uns an einer Gabelung nicht für die asphaltierte
Straße sondern für einen Reitweg durch den Wald. Wir werden es im weiteren
Verlauf der Tour nie wieder tun, denn außer Reitern auf ihren Pferden sind sie
keiner weiteren Vorwärtsbewegungart zuzumuten, zumal dieser Weg auch noch
sandig ist. Mit einiger Verspätung kommen wir zum Treffpunkt bei Schattin, den
wir über Handy mit dem Fernsehteam vereinbarten. Von hier begleitet uns der
Kamerawagen bis zum Ratzeburger See bei Utecht. Willkommener Kameraeinsatz war
ein kurzes Verlaufen im Ort, dem sonst so kostbare Sendesekunden geopfert
werden (eine schlechte Nachricht ist schließlich für Journalisten eine gute
Nachricht). Das Fernsehen hat uns gerade in dem Abschnitt begleitet, in
dem eigentlich der Magen Nachschub braucht.. Endlich hinter der Landesgrenze zu
Schleswig-Holstein und nach etwa 35
Kilometern sind wir wieder unter uns und legen eine Essenpause am Ratzeburger
See ein. Wir sind auf bekanntem Gebiet, denn seit der Wiedervereinigung lädt
Ratzeburg zum jährlich wiederkehrenden Adventslauf um den Ratzeburger See ein.
Heute aber laufen wir in Gegenrichtung weiter zur Insel- und Domstadt. Die nächste Station ist Mölln, erreicht auf waldreichem und
schließlich hüglig werdendem Radweg. Werner Zeller hatte sich in Schmilau von
uns verabschiedet, schließlich mußte er noch nach Lübeck zurück. 50 Kilometer
zeigt der Kilometerzähler, als wir gleich am Ortseingang die heimlich erhoffte
Getränke-Oase entdecken. Nichts geht über eine Cola, wenn man Durst hat und
sich erste Konditionsprobleme ankündigen. Die aber sollen noch größer
werden. Jochen Lenhardt aus Büchen
ist uns entgegengekommen bis in die
Stadt des Eulenspiegel. Nun läuft er
mit uns am Lübeck-Elbe-Kanal unserem Etappenziel Büchen entgegen. „Nur“ noch 22
Kilometer ist seine frustrierende
Botschaft, und das an einem Kanal entlang, der nur eine Biegung kennt, bis wir
endlich nach immer länger werdenden Kilometern über Güster und Neugüster Büchen
erreichen. Wenige Kilometer vor der
Stadt des nächsten ehemaligen Bahngrenzübergangs waren uns weitere
Läufer aus Büchen mit der schleswig-holsteinischen Landesfahne entgegen
gelaufen. Uns alle empfangen der Bürgermeister und sein Vorgänger. Er erzählt
uns von einem Grenzoffizier, dem er nach der Wende begegnete. Der hatte
offenherzig erzählt, daß er das Stadtoberhaupt schon lange und gründlich kenne,
denn schließlich habe er ihn lange genug von der anderen Seite aus observiert. Büchen ist nach wie vor eine
geteilte Stadt, aber das hat nichts mit der Grenze zu tun. Die Bahntrasse
Berlin-Hamburg schneidet die Stadt regelrecht
durch. Da hilft auch kein Einheitsbestreben, wie es schließlich bei der
Aufhebung der deutschen Teilung so erfolgreich war. Kühl ist es inzwischen geworden bei Getränken und Gesprächen
auf dem Platz. Krämpfe melden sich bei Dieter. Marianne Milewski aus Zarrentin,
als mecklenburgische Lehrerin im holsteinischen Büchen tätig, fährt uns in
unser Quartier. Am Abend sind alle Strapazen vergessen. Mit Jochen Lenhardt und
seiner Frau und bei Sauerfleisch, Bier
und Spezi lassen wir den ersten Tag unserer Tour ausklingen. Donnerstag, 14. September: der lange Weg nach Rüterberg
Büchen – Rüterberg,74km (146
km) Der gleiche Troß
wie auf den letzten Kilometern des Vortages: bis zur Landesgrenze Mecklenburg-Vorpommern
vor den Toren Boizenburgs werden wir wieder begleitet, nachdem uns
Bürgervorsteher Winter verabschiedete.
Unsere Begleiter kennen den Weg: das östliche Boizenburg ist inzwischen
zum Einkaufsziel für das westliche Büchen geworden. So wenden sich
glücklicherweise auch einmal anders herum die Zeiten! Der von unseren
Begleitern vorgeschlagene Weg ist gut und landschaftlich interessant, zunächst
am Kanal und später über die Wiesen des nahenden Elbegebiets. Er ist aber auch
länger, denn wir laufen entgegen unserer Vorstellungen nun fast an Lauenburg
heran. An der
Landesgrenze warten die Frauen bereits auf die mitlaufenden Ehemänner aus
Büchen. Für uns ist das
ein willkommenes Angebot einer richtigen Verpflegungsstelle, wie wir sie später
nur noch mitten im Drömling zwischen Brome und Oebisfelde haben werden. Ein letztes
Händedrücken und Winken, bevor wir Boizenburg entgegenlaufen. Doch schon nach
wenigen Kilometern gibt es den nächsten Halt. Bereits im Stadtgebiet von
Boizenburg erinnern uns Grenzanlagen an
den eigentlichen Anlaß unseres Unternehmens. Sie stehen so, als wollten sie uns
den herrlichen Blick aus der Höhe des Hangs auf die Elbniederung verwehren.
Aber damit ist es vorbei. Heute läßt sich der schändliche Rest schließlich
umgehen. Hinter Boizenburg
biegen wir von der B 5 ab. Der Neuhäuser Streifen, einst im Bezirk Schwerin der
DDR und heute Niedersachsen, liegt vor uns. Hinter Gothmann an der Sude treffen
wir auf zwei Radwanderer, Ingrid und Horst SL bleiben im Gespräch hängen, die
Läufer wählen prompt an der nächsten Gabelung den falschen und natürlich
weiteren Weg. Die Sonne meint es gut, vielleicht zu gut, denn der
Getränkebedarf ist groß. In Bahlen nehmen wir deshalb nur zu gern das
reichliche Angebot des Getränkemarktes wahr. In Bandekow schließlich finden wir
eine ungewöhnliche Raststätte. Im Schatten und auf den Stufen eines Kriegermals
stärken wir uns bei leichtem
Nieselregen und ziehen vorausschauend Tagesbilanz: wir werden wieder über 70
Kilometer laufen müssen, bevor wir Rüterberg erreichen. Neben und auf den Deichen der
Sude laufen wir weiter nach Neuhaus, der „Hauptstadt“ des gleichnamigen
Streifens. Wir sind im Zeitverzug und informieren über Handy den Bürgermeister
von Rüterberg, der bereits gemeinsam mit Jung und Alt aus dem Dorf auf uns
wartet. Auch die Gaststätte dort spielt mit, obwohl sie eigentlich Ruhetag hat.
Aber noch liegt ein weiter Weg durch den Wald der Garrenziner Heide und die
entsetzlich lange Streusiedlung Laave vor uns. Wenige Kilometer vor dem
ersehnten Ziel wartet die Rüterberger Ortschronistin Gerda Tomahogh und begleitet uns radfahrend und
trostspendend auf dem alten Postenweg in die Dorfrepublik. Auf dem Elbdeich
winkt jemand. Beim Näherkommen erkennt ihn Dieter: Jochen Baumann, Läufer,
Radfahrer und Lauforganisator des traditionellen und beliebten
Franz-Schwarz-Gedenklaufes, ist extra aus Kummer herübergekommen, um uns zu
begrüßen. Die Überraschung ist ihm gelungen! Bürgermeister Schmechel
überreicht uns zur Begrüßung Erinnerungsurkunden verbunden mit der Ortschronik
über eine Zeit der totalen Absperrung von der Außenwelt. Gelebt wurde zwischen
zwei Zäunen des Grenzsicherungssystems. Häuser wurden platt gemacht, wenn
Dorfbewohner ausgewiesen wurden oder von selbst gingen. Schmechel, heute Bürgermeister als ABM, hat nach der
Wende sehr schnell reagiert und der Treuhand Land abgekauft, das er in der
Folgezeit zu günstigen Konditionen zum Kauf anbot. Das Ergebnis kann sich sehen
lassen: heute wohnen im neuen Siedlungsgebiet neben dem Bürgermeister
Niedersachsen, Holländer und Mecklenburger nicht nur nebeneinander. Sie basteln
alle mit am Leben im Dorf, sie fühlen sich eben alle als Rüterberger. Weil das Dorf über die
Jahrzehnte gezwungener Maßen auf sich allein gestellt war, wurde die
Dorfrepublik Rüterberg ausgerufen, später erhielt Rüterberg vom Innenminister
diesen Titel ehrenhalber zugesprochen, wovon auch die Ortseingangsschilder
künden. Das alles erfahren wir vom
Bürgermeister, als er uns in sein Haus führt. Er und seine aus dem Westen
kommende Nachbarfamilie Stever sind
unsere privaten Quartiergeber, weil die vorhandenen Ferienwohnungen belegt
sind. Am Abend in der Gaststätte wird uns in größerer Runde bestätigt: in
Rüterberg ist schon viel zusammengewachsen, was zusammengehört. Freitag, 15. September: ein Erholungstrip über die Elbe
Rüterberg – Dannenberg, 17 km (163 km) Zwischen
Frühstück und Start versteht sich der Besuch des Heimat- und Grenzmuseums von
selbst. Wir opfern dafür und für den Aussichtsturm mit Blick auf die Elbe und
ihre Wiesen eine Stunde und starten entsprechend später, nachdem wir darüber
natürlich das Dannenberger Rathaus informiert haben. Schmechel freut sich über
unsere Spende, die wir wegen eingesparter Übernachtungskosten dem Museum
übergeben. Die Räder sind gepackt, aber auch das
Fahrrad des Bürgermeisters ist startklar. Schmechel fährt bis zur Dömitzer
Brücke mit, die eigentlich wegen der Flurzugehörigkeit Rüterberger Brücke
heißen müßte. Hier an der Landesgrenze zu Niedersachsen werden wir
regelrecht übergeben. Der stellvertretende Samtgemeindedirektor Schultz und
Dirk Rexin aus Damnatz erwarten uns, um uns laufend auf Elbdeichen und durch
Wiesen und Felder nach Dannenberg zu begleiten. Eine kleine Episode spielt sich
am Rande der Übergabe auf der Brücke ab. Ein Autofahrer aus Meißen, der gerade
in der Region war, hatte über Medien vom Lauf erfahren und wollte sich das
Ereignis für das Fotoalbum nicht entgehen lassen. So fuhr er zur Brücke und
harrte aus, bis wir sie mit der Stunde Verspätung passieren. Die Umgehungsstraße von
Dannenberg ist sicherlich ein Segen für die Bewohner, aber sie bewirkte auch,
daß wir all die Jahre an der Stadt nur vorbei fuhren. Eine Unterlassungssünde,
wie wir beim Einlauf in die Stadt mit ihren schönen Fachwerkfassaden und ihrem
Wasserreichtum feststellen. Wir werden am Nachmittag Gelegenheit nehmen, die
Stadt näher kennenzulernen und auch einen Blick vom Waldemarturm zu versuchen,
was angesichts ganzer Heerscharen von Gärfliegen an den Fenstern nicht so ganz
einfach und angenehm ist. Bürgermeister Harring Schröder begrüßt uns auf dem Markt und
lädt uns für den Abend zu einem Essen im Birkenhof ein mit interessanten
Gesprächen über Dannenberg, das Wendland und vorallem natürlich über die auch
für Dannenberg sich erfreulich gestaltenden Beziehungen über die ehemalige
Grenze hinaus. Schließlich bedeutete die geographische Situation, im Abseits
bundesdeutschen Lebens zu liegen. Für zwei Tage erhält unser Team Zuwachs. Dieters Tochter
Marion und ihr Freund Thomas Hahn sind aus Celle gekommen, um am Wochenende
aktiv dabeizusein. Sonnabend, 16. September: Lauf im Regen
Dannenberg–Salzwedel, 34km (197 km) Am Start kommt außer Thomas mit Gerrit Heginger ein
weiterer Läufer aus Celle dazu. Wir werden von Schultz verabschiedet und
starten zum ersten Mal pünktlich, so pünktlich, daß uns das Wendländer
Urgestein Irmela Wilk und Wolf, ein Dannenberger Kinderarzt, hinterherlaufen
müssen. Ein munter schwatzendes Häuflein, das dem immer stärker werdenden Regen
trotzt. Schwarz-Lineks können ein wenig aufatmen. Zwar naß aber nahezu schwerelos
können sie uns auf dieser und der nächsten Etappe begleiten, denn die
Fahrradtaschen hat das Auto des Celler Paares übernommen. Hinter Lüchow
kündigt ein Wachturm die ehemalige Grenze an. Hier, am heutigen Übergang von
Niedersachen nach Sachsen-Anhalt, machen wir kurzen Halt zum Trinken und
Fotografieren. Der Regen hört auf und Salzwedel ist nicht mehr fern, die Stadt
der Baumkuchen. Die werden uns dann
auch überrreicht von der Tourismuschefin, die uns im Namen der verreisten
Stadtspitze begrüßt. Leider bekommen wir keinen Kontakt zu vorhandenen
Laufgruppen, da war offensichtlich der Draht aus dem Rathaus nicht geschaltet.
Udo Schencke aus Brome, der uns ebenfalls am Ziel die Hände schüttelt,
verspricht Besseres in seinem Heimatort, zu dem er uns am kommenden Tag
begleiten wird. Wir nutzen den Nachmittag zu einem
Bummel durch die Stadt mit ihrem sanierten aber natürlich auch noch hin und
wieder maroden Fachwerk, ihren gotischen und Renaissancehäusern am
Kreuzungspunkt historischer Fernhandelsstraßen, ihrer Marienkirche mit interessanter Baugeschichte und reicher
Ausstattung und natürlich den vielen Salzwedeler Baumkuchen-Cafés, in denen man
zuschauen kann, wie die merkwürdigen Teiggebilde entstehen. Der „Eisen-Carl“
schließlich bildet den gastronomischen Abschluß des Tages. Sonntag, 17.
September: durch die westliche Altmark
Salzwedel – Brome, 37km (234km) Am Start sind wir unter uns. Udo
Schencke aus Brome ist natürlich dabei, wie er versprochen hat, und wieder
Thomas, der diese Etappe mit Marion teilen wird. Später kommt auch Günter aus
Stüde hinzu, der später in Brome mit niedersächsischer Landesfahne einlaufen
wird. Weil Sonntag ist und die Wege gen Brome nicht sehr zahlreich, muten wir
uns die B 248 zu. Der sonntägliche Ausflugsverkehr wird zwar langsam rege ,
aber noch ist er auszuhalten. Irgendwo hinter Vitzke biegen wir nach rechts ab
auf einen Landweg. Dort werden wir unverhofft erwartet: Als wir Vitzke
passierten, erkundigte sich eine Dorfbewohnerin nach unserem Woher und Wohin.
Ingrid gab natürlich bereitwillig Auskunft und mit dieser Nachricht eilte die
Frau zur Bürgermeisterin, die sich sofort in ihr Auto setzte, uns überholte und
uns nun begrüßte. Schnell haben wir eine unserer Urkunden zur Hand und
unterschrieben, Foto, Verabschiedung, und weiter geht die Tour über Bierstedt
auf Ziegelsplittweg, der Horst SL die erste mit Reparaturschaum behobene Panne
besorgt, nach Rohrberg. Hier steigt
Marion in das Laufgeschehen ein und überläßt Thomas die Weiterfahrt mit dem
Auto. Gleich hinter Rohrberg verlassen wir wieder die Bundesstraße und bekommen
ein landschaftliches Kleinod zu sehen, das uns bei bisherigen Autofahrten in
Richtung Harz versagt blieb. Ein uriger Wald zwischen Neumühle und Mellin mit
Bodensenken und Tümpeln und vor allem mit einem Quellgebiet, dem Taufbecken des
Bonifatius. Wir nehmen uns Zeit zum Schauen, denn das MDR-Fernsehen meldet über
Handy seine Verspätung. Sie wollen drehen an der Grenze zwischen Sachsen-Anhalt
und Niedersachsen, wenige Kilometer vor Brome.
Dort angekommen, ist zwar die Presse da in Person von Erika Weidemann
aus Stüde, der Mutter der Stüder Marathon-Doppeldecker, aber vom Fernsehen ist
nichts zu sehen. Also laufen wir weiter, denn der Bürgermeister wartet
schließlich. Und dann stehen sie doch am Wegesrand, die Leute mit der Kamera,
und filmen uns auf den letzten Kilometern vor dem Flecken Brome. Nur der rote Teppich fehlt
vor dem Rathaus noch. Ansonsten ist alles perfekt. Die Honoratioren Bromes,
allen voran Bürgermeister Adolf Bannier und Samtgemeindechef Otto Schulze,
applaudieren uns, Getränke stehen bereit und das Gästebuch der Stadt wartet auf
unseren Eintrag. Zur Begrüßung ist auch Horst Falkuß aus Oebisfelde dabei, der uns am kommenden Tag begleiten wird.
Brome lag im allerletzten Winkel, eingekeilt zwischen Sperranlagen nach Norden,
Osten und Süden. Daß es da der Bürgermeister ehrlich meint, wenn er die
Wiedervereinigung als Segen für die Bewohner Bromes bezeichnet, liegt auf der
Hand. Am Nachmittag werden uns die Worte bestätigt, als wir bei einem
Ortsbummel das Heimatmuseum mit seiner Grenzabteilung besuchen und mit den
freundlichen ehrenamtlichen Museumsdamen ins Gespräch kommen. Voll Stolz
schenken sie uns Hefte aus ihrer heimatkundlichen Reihe, die sich Themen der
Grenzsituation widmen. Mit Udo treffen wir uns zunächst beim Italiener, wo er die
Spendierhosen anhat und die Getränkerechnung übernimmt. In seiner Wohnung sehen
wir anschließend den heute gedrehten MDR-Beitrag im Fernsehen. Marion und
Thomas beenden ihren Wochenendtrip und wir trinken noch einen Schluck im wenig
einladenden Gasthof, dessen letzte Gäste wir vor der längst fälligen
Renovierung sind, wie uns die Wirtin beteuert. Montag, 18. September: im Drömling
Brome - Oebisfelde, 24 km (258 km) Am regnerischen kühlen Morgen werden
wir vom Bürgermeister vor dem Rathaus verabschiedet. Horst Falkuß hat zwei
Lauffreunde mitgebracht: Gerd Groneberg, ebenfalls aus Oebisfelde, und Volker
Selle aus Velpke, der nur fünf Kilometer entfernten niedersächsischen
Nachbarstadt. Das ist eine der Überraschungen auf dieser Etappe: So, als wäre
es nie anders gewesen, laufen die drei in einer Laufgruppe, kein Außenstehender
könnte unterscheiden, wer da aus dem Westen oder Osten kommt. Wenn die
Einteilung in Wessis und Ossis überhaupt langsam der Vergangenheit angehören sollte,
hier hat sie den realen Boden längst verloren (vielleicht gibt es Wessis
überhaupt nur im Osten??). Der ehemals eingekesselten Lage Bromes
zur DDR entsprechend passieren wir schon nach wenigen Kilometern die Grenze.
Die Ortseingang- und –ausgangsschilder von Zicherie und Böckwitz stehen auf
gleicher Höhe. Hier verlief der Zaun, der die Dörfer trennte. Horst Falkuß
zeigt uns bald darauf ein besonderes Grenzmal. Obligatorisch wieder ein
Wachturm, aber etwas weiter entfernt ein Nachbau originalgetreuer Grenzanlagen
in der chronologischen Entwicklung vom einfachen Zaun der fünfziger Jahre bis
zum totalen Abschottungssystem mit Selbstschußanlagen und Minenfeldern. Bald gibt es eine zweite Überraschung.
Obwohl die Strecke heute relativ kurz ist, steht mitten in der Landschaft eine
richtige Verpflegungsstelle. Das Autohaus Gades in Brome hat sie für uns
aufgebaut, willkommener Anlaß zum Trinken und Schwätzen. Am Auto entdecken wir
eine zufällige aber treffende Entsprechung zu unserem Motto „Mitten durch Deutschland“.
„Mitten in Deutschland“ steht unter dem Firmennamen! Wer kennt schon den Drömling? Wir bis dahin natürlich auch
nicht. Es ist eine ruhige, ebene Landschaft in einem Kanalsystem im Umfeld von
Aller und Mittellandkanal und steht heute zum großen Teil unter Naturschutz.
Horst Falkuß bedauert, daß wir nicht zur Blütezeit der Gräser und Pflanzen hier
sind, wir finden den Drömling aber trotzdem sehr schön, auch mit seinen Rehen ,
den Kühen und den vielen Pferden, die sich uns auf ihren Koppeln neugierig nähern.
Der Drömling war einst ein sumpfiges Gebiet, das bereits unter Friedrich dem
Großen durch den Bau der Kanäle entwässert wurde. Bei der Ankunft vor dem Oebisfelder Sportzentrum wieder
großer Bahnhof. Bürgermeister Dr.
Giffey begrüßt uns und stellt uns den 91-jährigen Oebisfelder Fritz König vor.
Noch mit 83 Jahren lief er die 10 000 Meter in 58 Minuten, bis eine Operation
seine leichtathletische Laufbahn, aber nicht die sportliche Betätigung
beendete. Er hofft zuversichtlich auf die deutschen Turnmeisterschaften, die
2002 in Leipzig stattfinden. Kostenloses Quartier finden wir in Gästezimmern der
Sporthalle. Dort wartet auch schon ein kräftiger Imbiß, den fleißige Frauen
vorbereiten. Zu ihnen gehört auch Frau Krause, die Schwiegermutter von Gerd.
Sie lädt uns zu einer abendlichen Nudelparty in ihrer Wohnung ein. Ihr Mann sei
schließlich in seinem Berufsleben viel unterwegs gewesen. Von der Solidarität,
die er dabei erlebte, wolle sie ein bißchen zurückgeben. Vorher aber zeigt uns Horst Falkuß seine Stadt. Wer kannte
sie schon, denn hinter der Stadtmauer verlief die andere Mauer, schotteten
Grenzanlagen die Stadt mit ihrem historischen Ortskern und der größten Moorburg
Deutschlands hermetisch ab. Auch im dortigen Heimatmuseum ist eine
Grenzabteilung zu besichtigen, die detailliert Eindrücke vermittelt vom
jahrzehntelangen Leben der Oebisfelder am Ende der DDR-Welt. Vom Turm der Burg blicken wir
auf die von der Stadtmauer umschlossene Altstadt und auf die Weite der Ebene.
Viel Zeit bleibt uns aber nicht, denn ein nächster Termin ruft. An diesem
Nachmittag wird der Bau einer zweiten Sporthalle gefeiert: Grundsteinlegung und
Richtfest in einem. Man hatte mit dem Baubeginn nicht auf die Förderpapiere des
Kreises gewartet, sondern legte damals sofort los, natürlich ohne einen
feierlichen Beginn. Nun konnte die Doppelfeier begangen werden. Der
Bürgermeister begrüßt auch uns unter den Ehrengästen. Gerd Groneberg, der in
seiner Freizeit nicht nur läuft sondern auch filmt, hält das Geschehen fest. Nach der traditionellen Erbsensuppe geht es gleich weiter zu
Frau Krause. Eine große Runde - auch Fritz König ist wieder dabei - findet eng
aneinandergerückt Platz in der kleinen Wohnküche, Frau Krause sitzt bescheiden
auf der Fußbank, und freut sich, wie wir über die riesige Nudelschüssel
herfallen. Wir essen und trinken, erzählen und telefonieren, es ist so richtig
gemütlich. Gerd aber drängelt. Er hat wohl noch eine Überraschung bereit. Er
bittet uns in sein kleines Atelier und führt uns drei Filme vor: den ersten vom
10 000-Meter-Lauf Fritz Königs, den zweiten über die Teilnahme der Laufgruppe
bei einem Rennsteiglauf vor vielen Jahren und schließlich den dritten von der
Grenzöffnung bei Oebisfelde. Ein berührender Film, engagiert und künstlerisch
gut gemacht. Am Schluß dieses Films lassen Kinder Luftballons steigen, die
Kamera folgt zwei von ihnen, die miteinander verbunden in die Wolken fliegen. Einen schöneren Abschluß hätte dieser Tag in Oebisfelde,
hätte dieser Abend bei Frau Krause nicht finden können. Oebisfelde wird uns
wohl allen besonders im Gedächtnis bleiben. Dienstag, 19. September: Vorgeschmack auf die Berge
Oebisfelde - Jerxheim, 50 km (308 km) Ein Anruf in Jerxheim bringt eine
Hiobsbotschaft. Das Quartier im dortigen Gasthof ist geplatzt, weil ein
Wasserrohr geplatzt ist. Aber kein
Grund zur Panik: wir werden privat unterkommen, wird uns versichert. Zum Start vor dem Rathaus ist Fritz
König wieder da und natürlich Horst Falkuß, der uns mit dem Fahrrad noch ein
Stück begleitet. Das Land ist flach wie ein Tisch. Das ändert sich allerdings,
nachdem wir in Querenhorst die B 244 passieren. Die erste Steigung am
Steinberg, dann geht es weiter über Rottorf zur A 2, die wir vor Barmke
unterqueren. Wir wollen Helmstedt und Schöningen westlich umlaufen und steuern
deshalb auf die Höhenzüge des Elz und des Elm zu. Hinter Emmerstedt dann
passiert es. Wir kreuzen die B 1 und wollen den direkten Weg durch den Wald
nach Wolsdorf einschlagen. Wenn aber die Markierung an der Wegegabelung fehlt,
gibt es bekanntlich zwei Möglichkeiten. Wir jedenfalls wählen die falsche und
landen im immer dichter werdenden dornreichen Gebüsch. Was da zunächst noch wie
ein Weg aussieht, erweist sich schließlich als eine Wildspur. Die Bestätigung
folgt auf dem Fuße. In nächster Nähe hören wir das Grunzen von Wildschweinen,
offensichtlich verärgert über die Störung. Guter Rat ist teuer. Dieter versucht
seitwärts einen Weg über das Feld zurück zur Bundesstraße und holt Horst P. Die
Radfahrer haben indessen die schwer bepackten Räder mühsam im Dickicht gewendet
und fahren bis zur B 1 zurück. Uns bleibt nichts weiter übrig, als den Elz zu
umgehen. Für zusätzliche Kilometer ist wieder gesorgt. Hinter Warberg beginnt der Anstieg zum
über 260 Meter hohen Elm, der dem Vergleich mit späteren Höhen natürlich nicht
standhält, aber doch schon einen kleinen Vorgeschmack dessen gibt, was uns
schon bald erwartet. Der Anstieg zieht sich nämlich ganz schön hin. Aber
schließlich geht es ja auch wieder abwärts und am Fuß des Elm bei Wobeck warten
bereits Dieter Kirchhoff und Bernhard Mika, mit denen wir gemeinsam Jerxheim
entgegen laufen. Am Ortsrand ein großes Aufgebot vom Bürgermeister über
Sportvereinsvorstände bis zur Presse. Heute scheint die Sonne, und so bleiben
wir lange im Gespräch. Dieter Kirchhoff aber mahnt zum Aufbruch, denn er ist
unser Quartiergeber und möchte seine Frau Almut nicht mit der Kaffeetafel
warten lassen. Die Begrüßung im Haus ist herzlich und
gerade draufzu. Almut zeigt uns unsere Zimmer und fordert unsere verschwitzte
Wäsche ab, die sie sofort der Waschmaschine übergibt. In der großen Diele des Hauses, in dem Almut und Dieter bis
zum vorigen Jahr ihre Ärztepraxis hatten, ist der Kaffeetisch gedeckt. Auch
Bürgermeister Siegfried Stoffregen, Samtgemeindedirektor Willi Heidemann und Hans Hertz vom Sportverein sind
gekommen. Wir sind in der besten Unterhaltung, da klingelt es. Im radsportlichen
Dress steht Bodo Pfeuffer aus Schladen in der Tür. Er möchte die beiden
kommenden Etappen mitlaufen, ist sein kurzes aber unmißverständliches Begehr.
Darüber zeigen wir uns natürlich erfreut, müssen aber auch darauf aufmerksam
machen, daß die Räder bereits hoffnungslos überladen sind und damit nicht in
der Lage, zusätzliches Gepäck und Verpflegung aufzunehmen. „Dann fahre ich auf
dem Fahrrad mit“, sagt Dieter Kirchhoff unverhofft und kurzentschlossen,
nachdem er sich offensichtlich durch einen kurzen Blick mit Almut verständigt
hat. Die Quartierfrage wird in Wernigerode geklärt. Bürgermeister Stoffregen überbringt uns eine Bitte seines
Vorgängers. Auf dem Heeseberg ganz in der Nähe stehen auf dessen Initiative
Gedenksteine zur deutschen Wiedervereinigung.
Das wäre doch schließlich ein Foto mit Leuten wert, die ihre Aktion dem
Jubiläum der Wiedervereinigung widmen. Wir fahren im Geländewagen von
Altbürgermeisters Johannes Vogler zum Heeseberg, machen die Fotos und hören von
ihm, daß die Inschriften auf den Steinen aus denkmalspflegerischen Gründen
entfernt werden sollen. Wir können seiner Empörung nur zustimmen. Vom Turm auf dem Heeseberg bietet sich ein imposanter
Rundblick nach Norden auf den Elm und das Kraftwerk Buschhaus bei Schöningen,
nach süden allerdings können wir den Harz nur vermuten, der dort bei klarer
Sicht vor uns liegen würde. Altbürgermeister Johannes Vogler fährt uns auf
großen Umwegen durch die Landschaft, die durch den Heeseberg und das
Bruchgebiet des Großen Graben gekennzeichnet ist. Der Große Graben bildete hier
die innerdeutsche Grenze. Dort wo er heute die B 244 quert, war auch die Grenze
zwischen Preußen und Braunschweig, wie uns Grenzsteine und Tafeln zeigen. Bis zum Abendessen ist noch ein wenig Zeit, er wird genutzt
für einen Rundgang durch den Ort. Als wir zurückkommen, erwartet uns ein
abendliches Mal mit Hirschbraten und Kartoffelgratin, mit Himbeeren und Sahne.
Wieder hat sich eine Gemeinde, wieder haben sich Leute als sehr gastfreundlich
erwiesen. Mittwoch, 20. September: die WindetappeJerxheim – Wernigerode, 37 km (345 km)
Heute geht es dem
Harz entgegen. Wieder einmal hält uns die Presse auf, die dann allerdings auch
ausführlich berichten wird und auch unterwegs noch Aufnahmen macht. Der Wind bläst
uns heute kalt und scharf entgegen. Wir laufen auf der B 244. die für ein
Flachland überraschende Serpentine nach Jerxheim-Bahnhof hinunter. Hinter dem
Ortsausgangsschild queren wir den Großen Graben und damit die ehemalige Genze.
Unterwegs haben die Sperranlagen wie auch in anderen Grenzbereichen Spuren
hinterlassen: ein ganzer Gartenzaun ist aus dem stabilen Streckmetall gezogen. In Badersleben
biegen wir ab Richtung Huy und erhoffen uns im Windschatten des bewaldeten
Höhenzuges etwas Schutz. Den erhalten wir auch ab Huy-Neinstedt, aber nun
beginnt die Steigung zum 300 Meter hohen Huy, bevor es wieder abwärts geht nach
Athenstedt. In Heudeber wählen wir einen Weg, der es in sich hat: ein Kopfsteinpflaster
allererster Güte erwartet uns für die nächsten Kilometer, bis wir endlich
Minsleben erreichen. Wir suchen die Hundemühle, hier wollen wir uns treffen mit
entgegenkommenden Wernigerödern, die sich aber offensichtlich im Harz
wesentlicher besser auskennen als hier im flachen Vorland, selbst wenn hier
auch die Holtemme fließt, die schließlich die berühmte Steinerne Renne bildet.
Sie werden wir am kommenden Tag Richtung Brocken bachaufwärts laufen. Über Handys
finden wir dann aber doch zusammen und laufen gemeinsam mit Gerhard Eichler und
Kuno Böttcher die letzten Kilometer Wernigerode entgegen. Im touristischen
Treiben der Breiten Straße laufen wir Spalier zum Markt. Wir hören schon von
weitem über Lautsprecher Bernd Minnich, einen der maßgeblichen Organisatoren
vom Harzgebirgslauf. Zur Begrüßung steht auch ein Geburtstagskind bereit:
Oberbürgermeister Ludwig Hoffmann heißt uns willkommen in der „Bunten Stadt am
Harz“. Das Jugendgästehaus an der
Friedrichstraße bietet uns Quartier, das auch für Bodo Pfeuffer und Dieter
Kirchhof bereit steht. Uns erwartet die
Bananenkiste, die wir mit Wechselwäsche vorausgeschickt hatten. Retour geht sie mit waschbedürftigen und mit
nicht benötigten Sachen. Für den Abend sind wir eingeladen in das Rathaus, das wohl zu den bekanntesten und
schönsten in Deutschland gehört. Am runden Tisch, an dem sonst der
Hauptausschuß der Stadtvertretung tagt, sitzen wir bei Imbiß und Getränken und
fachsimpeln über die Organisation großer Läufe wie Harzgebirgslauf und
Fünf-Seen-Lauf, die künftig gemeinsam mit dem Celler Wasa-Lauf in einer
Cupwertung zusammengehen wollen: auch das ein Zeichen des Zusammenwachsens. Sehr beruhigt können Ingrid
und Horst SL dem nächsten Tag entgegensehen: der Weg zum Brocken hinauf kann
ohne Gepäck in Angriff genommen werden, sie werden sogar mit den Rädern bis
zum Brockenbett gefahren, ein
einmaliger Luxus auf der ganzen Tour! Donnerstag, 21. September: die
Brockentour
Wernigerode – Bad Sachsa, 52 km (397 km) Pünktlich 9.00 Uhr erfolgt der einzige
Ehrenstart auf der ganzen Grenzlauftour. Vom Oberbürgermeister werden wir
verabschiedet, wir laufen durch das Westerntor und ein bereitstehender Kleinbus
der Stadtverwaltung bringt uns zum scharfen Start an der Bahnstation der
Steinernen Renne. Mit Walter Büchler aus Nachterstedt ist auch ein alter
Bekannter von vielen Ultra- und Marathonläufen mit von der Partie. Der
Riesenbrocken des Brocken liegt vor uns. Bernhard Eichler und Kuno Böttcher
erweisen sich als sachkundige Führer auf dem Weg über Forsthaus Hanneckenbruch,
den Blumentopf und den direkten steilen Waldstieg hinauf zum Brockenbett. Hier
warten schon Ingrid und Horst Sl für den gemeinsamen Weg die Alsphaltchaussee
hinauf zum Brocken. Es wird immer nebliger und kälter. 2°C sind es schließlich,
als wir oben ankommen. Der stellvertretende Chef der Nationalparkverwaltung
Burchardt begrüßt uns in deren neuen Domizil und lädt uns zu heißem Tee und
Laugenbrezeln ein. Wir erhalten interessante Informationen vom Brocken, daß
seine vergleichsweise geringe Höhe von 1142 Metern der alpinen Höhe von 2800
Metern entspricht, weil er den rauhen Winden des Atlantik ganz unmittelbar
ausgesetzt ist, daß hier die bisher größte Windgeschwindigkeit auf unserem
Planeten gemessen wurde und vieles andere mehr. Leider müssen wir weiter, denn
ein langer Weg bis Bad Sachsa am Südhang des Harzes liegt noch vor uns. Am
Abzweig zum Goetheweg verabschieden wir uns von den gastfreundlichen
Wernigerödern, von Bernd Minnich, Gerhard Eichler und Kuno Böttcher. An der Brockenbahn entlang und dann
steil bergab geht es auf ehemaligem Postenweg zum Dreieckigen Pfahl. Die
Drahtesel sind nun wieder voll beladen und müssen über den teils felsigen,
zeils mit Bohlen belegten Weg gezerrt werden. Dann folgen die schlitzlöchrige
Betonplatten der Grenzanlagen. Nichts mehr zum Radfahren! Die steile
Abwärtstour ist auch für die Läufer unangenehm und sorgt bei Dieter für erste
Probleme im Schienbeinbereich. Ohne Schmerzen läuft nichts mehr, und am Abend
wird das Schienbein tüchtig geschwollen sein. Am Königskrug erreichen wir die B 4. Peppi Kurz begrüßt uns,
lädt das Gepäck in sein Auto, gibt uns die drei Läufer Hans-Joachim Hoeft,
Hermann Schubert und Karl-Ernst Werneke mit auf den Weg und drängt zur Eile.
Schließlich sind noch 25 Kilometer zu laufen und der Kaffeetisch ist gedeckt.
Wohl oder übel muß Horst P. auf seinen „Sturmsack“ verzichten, harztypische
Riesenwindbeutel, die er hier oben einst mit seiner Frau in den Flitterwochen
verspeiste. Doch aus der heutigen Rast im Café wird leider nichts. Die Wege nach Bad Sachsa sind zunächst schlammig, wir
springen um die Pfützen herum, für die
Radfahrer auch ohne Gepäck eine Tortur. Ein herrlicher Panoramaweg mit Blick
auf den Oderstausee in der Nähe des Stöberhai entschädigt für die Prozedur,
aber Hunger stellt sich ein. Jetzt merken wir, daß Peppi ganze Arbeit geleistet
und mit dem Gepäck auch die Verpflegungstaschen gegriffen hat. Wir kommen dann
aber doch noch ganz leidlich über die Runden, weil sich in Gürtel- und
Lenkertaschen dann doch noch Eßbares findet. Endlich ist Bad Sachsa in Sicht. Ein letzter Abstieg, und
wir laufen in voller Straßenbreite zum Rathaus im für eine Behörde wohl
seltenen Jugendstil. Bürgermeisterin
Helene Hofmann heißt uns im
repräsentativen Sitzungssaal willkommen. Wir werden diese sympathische Frau
noch an den nächsten beiden Tagen erleben. Morgen ist schließlich unser erster
Ruhetag. Peppi hat es wieder eilig. Er führt uns zu sich nach Hause,
wo seine Frau Gerlinde mit riesigen Kuchenbergen für die ganze Truppe wartet.
Wir fühlen uns sofort sauwohl, essen und plaudern, und dann gibt es noch eine
Überraschung für Horst P.: Gerlinde bringt ihm einen großen Windbeutel als
Entschädigung für die Enttäuschung am Königskrug. Der Zeitplan ist eng, denn
Peppi hat für uns mit Hotelbesitzer Müller einen Sponsor für das Abendessen im
Harzhotel zum Mühlenberg gewonnen, das aber so schnell wie möglich eingenommen
werden muß. Von Bodo und Dieter verabschieden wir uns, wir sagen Danke den
Mitläufern aus der Region, die uns den Weg nach Bad Sachsa führten, und Peppi bringt uns im Auto in das
benachbarte Steina und eine herrlich große Ferienwohnung, so richtig bestellt
für den längeren Aufenthalt am Ruhetag. Wenig später, geduscht und
den Umständen entsprechend fein gemacht, sitzen wir im Mühlenberg. Der Wirt,
der offensichtlich unter fein etwas anderes versteht und das auch nicht zu
verbergen geneigt ist, taut langsam auf. Er wird gesprächiger und kommt immer
mal wieder zu uns, während wir es uns beim fürstlichen Menü und an einem sich
biegenden Salatbüffett gut sein lassen. (Als wir ihm am nächsten Abend noch
eine unserer Urkunden als Dankeschön und zur Erinnerung bringen, lädt er uns
wieder an sein Büffett ein. Wir müssen aber leider ablehnen, weil unsere Mägen
nur Kapazität haben für das bevorstehende Essen bei Familie Kurz). Schon wieder wartet Peppi. Gemeinsam mit Gerlinde verbringen
wir bei ihm einen gemütlichen Abend bei viel und vor allem guten Rotwein aus
seiner Heimat Südtirol. Wir erfahren an diesem Abend sehr viel von den beiden. Als
Musikanten, zunächst als Kurz-Familie und nachdem die Kinder aus dem Haus sind
als Kurz-Duo, sind sie nicht nur in der Harzer Region sondern auch über Fernsehen,
Funk und viele Veranstaltungen bekannt.
Wir werden uns von der stimmgewaltigen Meisterjodlerin Gerlinde,
begleitet vom Gitarre spielenden Peppi, am nächsten Abend überzeugen können.
Wir hören aber auch die Erfolgsstory des Läufers Peppi Kurz, der in seiner
Altersklasse Welt-, Europa- und deutsche Meistertitel nur so sammelt. Da haben
die meisten Jüngeren das Nachsehen, wenn Peppi auf der Strecke ist. Seine
Medaillen- und Pokalsammlung spricht Bände.
Fürsorglich wird Dieters Bein betreut mit Eisbeuteln
und Salben.
Es wird sehr spät in gemütlicher Runde, aber am
nächsten Tag ist schließlich nach neun Etappen wohlverdienter und sehnlichst
erwarteter Ruhetag.
Freitag. 22. September: Harzer Klötze
Ruhetag Nach dem Aufstehen haben wir
endlich Muße, unsere Wohnung zu genießen. Frische Brötchen stehen bereit und
ein Kühlschrank, der voll bestückt ist mit Wurst, Käse und Getränken. Eine
solche Fürsorge in einer Ferienwohnung hatten wir wohl alle noch nicht erlebt.
Aber die Vermutung lag nahe, daß das uns zu Ehren geschah, denn als wir am
nächsten Tag unsere Rechnung begleichen wollen, kam die nächste Überraschung:
Ganze 100 DM wollte die Wirtin für zwei Tage mit Frühstück und vollem
Kühlschrank von uns alles in allem haben! Für die Gestaltung des Ruhetages hat Peppi auch gesorgt und
uns den Aufenthalt im großen Erlebnisbad angeboten. Doch wir müssen ihm leider
einen Korb geben. Dieter will sein Bein schonen, Ingrid und Horst SL werden
sich um die Fahrräder kümmern müssen und Horst P. will es bei einem Bummel durch
das etwa 4 km entfernte Bad Sachsa bewenden lassen. Aber die Abendgestaltung
steht: natürlich wieder bei Gerlinde und Peppi. Auch die Bürgermeisterin ist
eingeladen. Als uns Peppi abholt, hören wir Sirenen. Peppi erzählt uns
von einem Brand im Pflegeheim. Dieser Brand ist auch die Ursache dafür, daß wir
vergeblich auf die Bürgermeisterin warten. Wir fangen also schon einmal mit dem
Essen an. Es gibt Harzer Klötze, halbierte ungeschälte, aber natürlich
gesäuberte Kartoffeln, mit Speck gebacken im Backofen. Das ist gewissermaßen
die Nahrungsgrundlage für Unmengen an
Wurst, Gehacktem und Käse, die auf dem Tisch bereit stehen. Und dann wieder
Rotwein, Rotwein, Rotwein. Wird die Bürgermeisterin noch kommen? Sicherlich
hätte sie abgesagt. Da klingelt um 21.30 Uhr das Telefon. „Kann ich noch
kommen?“ Zehn Minuten später ist sie da und wir erleben noch einen munteren
Abend, an dem Peppi und Gerlinde nicht nur Brüderschaft mit der Bürgermeisterin
trinken, sondern der ersten Frau im Ort auch noch das Versprechen abnehmen, am
kommenden Morgen einige Kilometer mitzulaufen. Sonnabend,
23. September: „Haltet durch – nur noch 343 Kilometer“
Bad Sachsa – Bad Heiligenstadt, 54 km (451 km)
Die Bürgermeisterin hat Wort gehalten.
Sie steht schon im Laufdreß vor ihrem schönen Rathaus, als wir kommen. Peppi
und Karl-Ernst Werneke wollen uns auch ein Stück begleiten. Und wieder schließen sich uns gleich für
zwei Etappen Lauffreunde an: Mattin Becker aus dem Sauerland und Christoph
Wenzel aus Celle, der im Auto mitfährt. Für Ingrid und Horst SL bedeutet das
wiederum eine erfreuliche Entlastung ihrer Räder. Ein wenig komisch ist der
Bürgermeisterin schon zu mute, als sie mit uns durch ihre Stadt läuft. Aber
sicherlich wird das Echo der zuschauenden Öffentlichkeit nur positiv sein. Nach
einigen Kilometern verabschiedet sie sich von uns, denn der Dienst ruft. In
Mackenrode hinter der Landesgrenze zu Thüringen kehren auch Peppi Kurz und
Karl-Ernst um. Ein letztes Winken und wir setzen unseren Weg durch das
Eichsfeld fort. Dieters Bein ist offensichtlich
auskuriert. Am Abend vorher hinkte er noch durch die Gegend. War es die
Schonung oder die Rotweinkur? Zunächst ist es flach, aber hinter Stöckey
beginnen wieder die Anstiege. In der Ferne
sehen wir die riesige Abraumhalde des Schachtes von Bischofferode,
dessen Abwicklung zu den Schattenseiten der Wiedervereinigung gehört und der
durch den Hungerstreik der Bergleute in den Schlagzeilen war. Diese Halde sehen
wir noch, als wir längst Holungen passiert haben und den langen Anstieg zum
Ohmgebirge absolvieren. Die Sonne bricht sich Bahn durch den Nebel und von der
Höhe vor Worbis lohnt sich der Blick zurück auf die Landschaft des unteren
Eichsfeldes mit seinen Hügeln und Mulden, in denen Dörfer wie Holungen mit
ihren Kirchturmspitzen liegen. Hinter Worbis nehmen wir uns Zeit für
eine kurze Rast. Wir passieren
Breitenbach und biegen noch vor Leinefelde auf den Leine-Radfernweg. Leider müssen
wir in Beuren wieder auf die viel befahrene B 80. Wir entschließem uns aber zu
einem kleinen Umweg über Bodenrode und Westhausen wenige Kilometer vor
Heiligenstadt. An einer Straßenkreuzung werden wir von Kindern begrüßt, die mit
uns laufen und uns den Weg zum Marktplatz zeigen. Dort stehen viele Leute, ein Transparent ist gespannt: “Horst und Dieter
haltet durch. Nur noch 343 Kilometer!“. Ein origineller Willkommensgruß von den
Sportlern um Jürgen Jünemann. Der Weg zum Quartier ist lang. Das
Ortsausgangsschild ist schon erreicht. Wir rufen über Handy die Wirtin an: ist
schon in Ordnung, noch 200 Meter. Ebenso erging es den vorausfahrenden
Radfahrern, deren letzte Hilfe auch das Handy war. Und das Gleiche passiert
Mattin und Christoph, als sie uns am Abend abholen wollen zum Essen, für das
wir uns heute ein chinesisches Restaurant wählen. Sonntag, 24. September: ins obere Eichsfeld
Bad Heiligenstadt – Eschwege, 32 km (483 km)
Auf dem
Marktplatz ein neues Gesicht. Fritz Jähn aus Göttingen will den Sonntag nutzen
für einen gemeinsamen Trip mit uns. Es ist übrigens schon der vierte
Mediziner, der bei uns ist, denn auch
Christoph hat sich der Heilkunst verschworen. Am Beginn der vorausgehenden
Etappe hatten wir den Gebirgszug am Horizont für den Rennsteig gehalten. Das
entsprach natürlich unseren geographischen Unkenntnissen, aber hoch war das
schon, was da in der Ferne vor uns lag. Wir bekommen diese Höhe auch sehr bald
nach dem Start zu spüren. Es geht in das obere Eichsfeld. Bernterode liegt auf
450 Meter Höhe. Die Radfahrer haben auch ohne das große Gepäck Mühe
hinterherzukommen. Christoph hatte
sich vorgenommen, auch ein Stück mitzulaufen und wollte das Auto stehen lassen,
das später von Freunden geholt werden sollte. In Rüstungen aber muß er uns
verpaßt haben. Er nutzte immer mal die Gelegenheit, auf uns im Auto zu warten
und zu lesen. Offensichtlich war die Lektüre aber zu spannend, so daß wir unbemerkt
an ihm vorbei laufen bzw. fahren. Schließlich holt er uns aber zwischen
Hühnermühle und Volkerode ein. An einem Gehöft springen uns zwei knurrende
Köter entgegen, aber wir sind in bedrohlicher Übermacht und das Herrchen ruft.
Dafür gibt es hinter dem Gehöft eine zoologische Präsentation gratis. Ein
Hängebauchschwein hatte die Hecke durchbrochen und steht nun seelenruhig auf
dem Weg. Den Anstiegen zum Eichsfeld
folgt der lange Abstieg über die Grenze zu Hessen und über Meinhard nach
Eschwege. Das Rathaus scheint verwaist. Am Sonntag können wir wohl keine offizielle
Aufmerksamkeit erwarten, klingeln aber trotzdem an der verschlossenen
Rathaustür. Gerade wollen wir uns von Mattin und Christoph verabschieden, da
kommt jemand aus dem Rathaus auf uns zu. Es ist der Bürgermeister, der eine
kleine Sonntagsschicht eingelegt hatte und unser Klingeln hörte. Ohne Schlips
sei eine offizielle Begrüßung aber nicht denkbar, so bittet er uns am nächsten
Morgen in seine Diensträume, um uns wenigstens offiziell zu verabschieden. Der Nachmittag steht zur freien Verfügung, der zum Bummel,
zum Kaffetrinken und zur Turmbesteigung mit herrlichem Blick auf die umgebenden
Berge genutzt wird. Vor dem Aufbruch zum abendlichen Essen kommt Jochen Miersch
vom Bundesgrenzschutz, der dort für Leichtathletik verantwortlich zeichnet. Er
begleitet uns in die „Krone“, wo wir über unseren gemeinsamen Sport und über
das Leben beiderseits der ehemaligen Grenze diskutieren. Montag, 25. September: an der Werra
Eschwege – Berka, 39 km (522 km) Zur vereinbarten
Zeit um 8.30 Uhr finden wir uns im Rathaus ein. Zu uns haben sich Bernd
Scheller mit seinem Fahrradbegleiter und zwei junge Läufer gesellt, der
16-jährige Sebastian, der in Frankfurt seinen ersten Marathon laufen will, mit
seinem Lauffreund. Auch Jochen Miersch hat Verstärkung
mitgebracht, die Presse ist da, so füllen wir den großen Konferenztisch beim
Bürgermeister, der uns nun offiziell begrüßen und seine Stadt vorstellen kann.
Für Eschwege, schon immer eher nach Thüringen ausgerichtet als nach Hessen, war
der Fall der Mauer natürlich ein besonders freudiges Ereignis. Wir verlieren im
Gespräch über die Stadt und über unser Anliegen ein bißchen das Zeitgefühl und
können wiederum erst verspätet aufbrechen. Wie am Vortag geht es gleich und lange
bergauf zum Hundsrück, weit über 400 Meter. Langsam macht sich das Training der
Vortage bemerkbar, die Gehpausen setzen erst sehr spät ein. Auf der Höhe
angelangt, verabschieden sich Jochen Miersch und seine Mannen. Für uns geht es
weiter immer wieder mit Anstiegen über Röhrda, Renda und Holzhausen nach
Wommen. Hier laufen wir übrigens etwa eine halbe Laufstunde westlich an Hörschel
vorbei, dem Beginn des Rennsteigs, dessen südlichen Teil noch auf unserer
Grenztour liegen wird. Wir unterqueren die A 4, erreichen die
Werra und die Grenze zwischen Hessen und Thüringen. An ihr entlang geht es bis
Gerstungen, das als Grenzstation der Bahn zu traurigen Ehren gekommen ist.
Hinter Gerstungen biegt ein Weg ab über die Werrawiesen. Im Werrabogen nähern wir uns Berka,
schon sehen wir die Berkaer Werrabrücke mit winkenden Leuten. Das Arztehepaar
Jutta und Erwin Ritsche, einst Mitschüler von Dieter, ihre Enkelin Luise,
Bürgermeister Gerald Wiedemann, sie sind uns schon hierher entgegen gekommen,
um uns das letzte Stückchen zu begleiten. Ritsches haben vorsorglich alles vorbereitet und auch
finanziert. Uns erwarten unsere Zimmer in der „Post“ und ein abendliches Dinner
bester Güte. Wir genießen diese Gastfreundschaft und haben einen schönen Abend
mit Bürgermeister Wiedemann, den Ritsches, ihrem Sohn Steffen, der in jedem
Jahr am Rennsteiglauf teilnimmt und das ärztliche Trio vervollständigt und
dessen Frau Babett, die als Ratsfrau kommunalpolitische Präsenz zeigt. Berka war bei der Streckenwahl natürlich ein Muß für Dieter.
Aber auch die anderen drei werden den Etappenort Berka ungern missen wollen,
zumal Horst SL endlich eine Werkstatt für Ingrids Gangschaltung gefunden hat,
an der er schon des öfteren herumdoktern mußte. Dienstag, 26. September: es geht in die
Rhön
Berka – Tann, 46 km
(568 km) Wir starten vor dem Quartier. Steffen
ist gekommen, kümmert sich gleich um Ingrids Halsentzündung, die er als
ersthaft einstuft, so daß er mehrere Medikamente mit auf den Weg gibt. Leider
kann er nicht mitlaufen, denn die Praxis ruft. Aber allein werden wir nicht
sein, denn Siegfried Koch, Eisenacher Triathlet, ist mit von der Partie. Er hat
am Vortag die Strecke mit dem Fahrrad ausgekundschaftet. Ihm standen dabei
top-secret-Karten aus DDR-Zeit zur Verfügung.
Mit dem Grenzläufern hat Siegfried nicht nur die bevorstehende Etappe
gemeinsam. Zum 5. Jahrestag der deutschen Einheit hatte er mit seinem Sohn
Dominik per Rad den gesamten Rennsteig, der fünf Mal die ehemalige Grenze
querte, von Blankenstein nach Hörschel in 8:17 Stunden zurückgelegt Heute werden uns tüchtige Anstiege das
Leben schwer machen, prophezeit uns Siegfried. Wir können gerade noch Steffen
winken, da geht es schon einen steilen Anstieg von etwa 200 Meter auf 450
Meter.hoch, der kein Ende nehmen will. Am Auelsberg geht es aber leider wieder
abwärts nach Abterode. Wir haben also noch keine Höhe gewonnen. Sie wäre uns
willkommen gewesen, denn schließlich müssen wir heute noch zweimal auf 700
Meter Höhe. Und das mit den bepackten Rädern?
Ingrid ist so wie so schon etwas geschafft, weil sie bei einer Ortsdurchfahrt
auf schmalem Fußweg mit dem Gepäck eine Hauswand streifte und auf die Straße
stürzte. Zum Glück nur blaue Flecken. Siegfried macht den Vorschlag, daß Horst
SL mit Siegfrieds Auto, das bei seiner Mutter in Vitzeroda steht, und dem
Gepäck vorfährt. Im fremden Auto in den Bergen doch ein zu großes Wagnis. Und
das Gepäck stehen lassen, um es später zu holen? Auch das scheint uns zu
kompliziert und zeitaufwendig. Also bleibt nur der Weg über die Berge mit voll beladenen
Rädern. Dieter hat die Zeit bis zur
Entscheidung zum Schuhwechsel genutzt. In Berka hatte er seine leichten Treter
mit geringerer Dämpfung angezogen, nun spürt er empfindlich die Gegend oberhalb
des rechten äußeren Knöchel. Dieses Handicap wird ihn dann für den Rest der
Tour bis zum Dreiländereck begleiten. Wir brechen wieder auf. Die Anstiege
machen den Fahrradfahrern mehr zu schaffen als uns, denn sie müssen beim Gehen
auch noch Last schieben. Wir machen aus, daß wir vorauslaufen, schließlich sind
die Räder wieder schneller, wenn es bergab geht. Wir werden hinter Oechsen
warten, bevor es an den ersten Siebenhunderter geht. Von diesem Treff aus
sollen die Radfahrer die Berge umfahren und Tann auf der Straße ansteuern. Am
vereinbarten Treff gibt es herrliche Äpfel vom Baum. Die Zeit geht dahin, die Radfahrer
müßten eigentlich längst da sein. Wir befürchten, daß sie bereits in Oechsen
abgebogen sind und wir vergeblich warten. Aber was solls: Äpfel haben wir gegessen, Siegfried weiß
eine Quelle am Berg in Landers, also beginnen wir den Anstieg zum Hohen Stern,
dem dann der letzte zur Himbornskanzel folgt. Auf der Höhe folgen wir ein Stück
dem Postenweg. Die Grenze zwischen Thüringen und Hessen ist wieder erreicht.
Über Kottenhof geht es nur noch abwärts nach Tann, was für einen angeschlagenen
Knöchel nicht gerade die blanke Sahne ist. Durch ein richtiges Stadttor laufen wir in die Stadt ein.
Dort erwarten uns Bürgermeister Dieter
Herchenhan und die Radfahrer, die tatsächlich bereits in Oechsen abgebogen sind
und steile Anstiege vermeiden konnten. Erfreulicherweise ist auch unsere Herbergswirtin am Rathaus.
Sie fährt uns Läufer in das höher gelegene Quartier. Zeit bleibt, um die Stadt anzusehen mit ihrem historischen
Kern und dem Schloß derer zu Tann, die auch heute noch hier wohnen. Dann suchen
wir die „Krone“ auf, der Bürgermeister hatte für uns einen Tisch reservieren
lassen. Unsere Rechnung geht auf seine Kosten. Am Tisch bekommen wir zweimal
Besuch. Norbert Antochin, Lehrer am Eberhard-Gymnasium, bittet uns zum Start am
nächsten Morgen in die nahe Schule. So eine Gelegenheit ergäbe sich selten, ein
gesellschaftlich so wichtiges Ereignis wie die Wiedervereinigung mit einer
persönlichen, privaten Aktion zum Einheitsjubiläum zu verbinden und damit
für die Schüler erlebbar zu machen. Das kann Antochin auch gleich ins Mikrofon
sagen, denn auch eine Journalistin des Hessischen Rundfunks ist zu uns
gekommen. Wir sind gespannt auf den nächsten Tag, vor allem natürlich darauf,
was uns auf dem Schulhof erwarten wird. Mittwoch, 27. September: ein prächtiger
Start und ein kräftiger Sturz
Tann – Meiningen, 43 km (611 km)
Der Start in Tann gestaltet sich dann tatsächlich zu einem
der großen Höhepunkte auf unserer Tour. Gegen 8.30 Uhr füllt sich der Schulhof
des Eberhard-Gymnasium. Ingrid fühlt sich in ihre Lehrerzeit versetzt, aber es
ist irgendwie anders. Schülerinnen und Schüler umringen sie und uns, Autogramme
werden gewünscht auf Zetteln, in Heften und auf Unterarmen, wir sind ein
Ereignis im Schulalltag. Der Direktor spricht und wir sprechen, und wir haben
das Gefühl, daß zugehört wird. Wann passiert das schon in so großer Runde und
auf einem Schulhof noch dazu? Der Direktor hat sicherlich recht, wenn er sagt,
daß künftiger Unterricht zum Thema Spaltung und Wiedervereinigung leichter zu
gestalten ist, weil die Kinder nun ein besonderes Erlebnis damit verbinden
können. Schließlich kennen sie ein geteiltes Deutschland zum großen Teil nur
noch vom Hörensagen und aus dem Geschichtsbuch. Es ist 9.00 Uhr. Kaum zu glauben bei dem Trubel, aber wir
können doch fast pünktlich starten. Und wir tun es nicht allein. Zwei
Schulklassen begleiten uns in die sonnige Rhönlandschaft für einige Kilometer.
Wir verabschieden uns und blicken den zurücklaufenden Kindern nach, ein
unvergeßlicher Moment. Die Rhönkuppen sind in Nebel gehüllt. Da müssen wir hinauf,
und so verläßt uns die Sonne recht bald für den Rest des Tages. Die Radfahrer
haben es beim Anstieg wieder besonders schwer. So sind die Läufer vor ihnen in
Kleinfischbach und erkunden den weiteren Weg. Kräftig geht es weiter nach oben
bis zur Höhe, die die Grenze war und heute Hessen mit Thüringen verbindet. Am Bachlauf
der Lotte wollen wir eigentlich nach Kaltenwestheim, biegen aber versehentlich
nach Kaltennordheim ab und sorgen damit für einen Umweg. Merkwürdigerweise geht
es den Radfahrern wenig später ebenso, wie wir hinterher erfahren. Jetzt geht es nur noch bergab. Der Waldweg geht in eine
asphaltierte Straße über, die Kaltennordheim ankündigt. Aber was ist das? Eine
dicke glitschige Schicht aus Lehm und Kuhfladen bedeckt die Straße, die Läufer
springen und stolzieren mehr als sie laufen. Im Ort beginnt es zu regnen. Horst
P. und Dieter finden einen Unterstand und warten auf Ingrid und Horst SL. Es
tut sich aber nichts. Haben die Radfahrer den richtigen Weg nach Kaltenwestheim
gewählt? Die Läufer machen sich auf den Weg nach Kaltensundheim, denn da müssen
wir alle sowieso vorbei, also das geringste Risiko. Kaum sind die Läufer dort,
kommen auch schon die Radfahrer, aber in welchem Zustand? Horst ist samt
Fahrrad und Gepäck mit Dreck beschmiert, und hinken tut er auch. In besagter
lehmiger Kuhscheiße ist Horst SL ins Rutschen gekommen und hat sich so lang er
mit seinen fast zwei Metern ist, in den Dreck gelegt. Der Versuch, im Fallen
noch zu retten was zu retten ist, hat ihm das Knie sehr übel genommen. Mit
heftig schmerzender Zerrung muß Horst
nun weiter Richtung Meiningen. Die großen Anstiege lassen nun langsam nach,
aber stark wellig bleibt es schon. Wir sind auf dem Weg über Oberkatz,
Stepfertshausen nach Herpf, wo uns der Leichtathletikchef vom Meininger
Polizeisportverein Peter Osmann erwartet mit den jungen Läufern Katja Böttcher und Markus Gräf, die uns zum Ziel
begleiten werden. Sie schlagen vor, nicht den Weg über den Berg des Herpfer
Waldes zu laufen sondern den einfacher zu bewältigenden Umweg über Melkers und
Walldorf einzuschlagen. Wieder sind einige Kilometer dazu gekommen, und der Weg
im weiten und ebenen Werratal nach Meiningen nimmt kein Ende. Auf dem Markt begrüßen uns der vorausgefahrene Peter Osmann
und die Chefs der städtischen Sportstätten und des Sportstättenfördervereins.
Die Presse fragt und notiert eifrig.
Sie zeigt auch Interesse, als Dieter ihnen von seiner früheren Tätigkeit
am Meininger Theater erzählt. Es ist ungemütlich kalt. Osmann fährt die Läufer
ins Quartier. Die Radfahrer folgen dem Vorschlag, den Weg abzukürzen und landen
an Treppenaufgängen, die angesichts der Fahrradlast und des geschundenen Knies
nun alles andere als eine Freude sind. Endlich ist wieder
ein Ruhetag. Fahrradtaschen und Räder werden gereinigt, die Wäsche landet zum
Waschen in der Badewanne und anschließend auf improvisierter Leine auf der
Terrasse. Danach ist nur noch Essengehen vorgesehen. Wir tun das im „Walfisch“,
essen Thüringer Klöße, hier in der Spezialität Meininger Hütes, wir plaudern
mit einem Tischnachbarn und bestellen ein Taxi für Horst, dessen Knie
bedenklich dick geworden ist. Donnerstag, 28. September: Meininger
Kulissenwelt
Ruhetag in Meiningen Großes Programm ist heute nicht vorgesehen. Dieter und
Ingrid tauchen ein in die Kulissenwelt der berühmten Meininger, die am Ende des
19. Jahrhunderts mit ihren Klassikerinszenierungen durch Europa zogen. Zum Mittag gibt es wieder Thüringer Klöße, sie werden
serviert vom ehemaligen Kantinenchef der Werderkaserne in Schwerin! Dieter nutzt am Nachmittag die Zeit zu einem Bummel durch
seine einstige Wohn- und Wirkungsstätte. Vorsorglich erkundigt er sich auch bei
Bahn und Bus nach Verbindungen für Horst SL zum nächsten Etappenort Bad
Königshofen. Das Knie sieht schließlich nicht gut aus. Für den Fall der Fälle
müßte Horst SL sehr umständlich im Bus mit Umsteigen und zweistündigem
Aufenthalt in Römhild nach Bad Königshofen fahren, denn zehn Jahre nach der
Wende gibt es von Meiningen keine direkte Verbindung in die bayrische
Nachbarstadt. Übrigens haben wir auch
kein Glück, eine Wanderkarte für die Region bis zu unserem nächsten Etappenziel
zu bekommen. Zum bayrischen Königshofen ist von Meiningen aus nach wie vor
Schluß mit Verbindung und Information. Freitag, 29. September: ins fränkische
Bayern
Meiningen – Bad Königshofen, 35 km (646 km)
Meiningens Bürgermeister
sitzt weder in einem Rathaus noch am Markt. Die Elisabethenburg, einst Residenz
der Herzöge von Sachsen-Meiningen, beherbergt heute Museum und
Stadtverwaltung. Hier wollen wir uns
treffen, um verabredungsgemäß gemeinsam mit dem Bürgermeister zum Start auf den
nahe gelegenen Marktplatz zu gehen. Mit
dem Chef der Öffentlichkeitsarbeit, der wortreich begründet, wieso er sich
nicht wie versprochen hat melden können am Ankunftstag, um uns die Stadt zu
zeigen, gehen wir schon einmal vor. Der Bürgermeister käme sofort nach,
erfahren wir. Nach vergeblichem Warten am Startort wird telefonisch im Büro
nachgefragt. Aber leider, der Bürgermeister ist plötzlich denn doch verhindert.
So brechen wir in nebliger
Kühle eben so auf. Wir nutzen am
Stadtausgang einen ruhigen Weg, der vor Untermaßfeld auf die stark befahrene B 89 führt. Bald wird es aber wieder ruhiger und die Sonne bricht durch, als
wir nach rechts in Richtung Ritschenhausen abbiegen können. Wir sind
erleichtert, denn am Ortsausgang von Untermaßfeld hatte es Irritationen
gegeben. Wir befürchteten, bereits den Abzweig verpaßt zu haben. Deshalb liefen
und fuhren wir wieder abwärts zurück und den Berg dann zum zweiten Mal hoch,
nachdem wir uns von der Richtigkeit des eingeschlagenen Weges überzeugten.
Nach einem steilen Anstieg
vor Wölfershausen wird die Strecke eben. Wir haben das Grabfeld erreicht, das
wellige offene Land zwischen dem thüringischen Römhild und dem fränkischen Bad
Königshofen.
Vor Irmelshausen passieren
wir den ehemaligen Grenzstreifen. Wir sind in Bayern angekommen, oder besser in
Franken, wenn man es sich nicht mit den Bewohnern verderben will. Bad
Königshofen ist der südlichste Punkt unserer Tour.
Auf dem Markt von Bad
Königshofen wartet die Presse. Nach Fototermin und Interview geht es ins
Rathaus, wo wir vom stellvertretenden Bürgermeister Udo Jahrsdörfer im
historischen Sitzungssaal empfangen werden. Wir sind im Mainfränkischen, also
steht auch mainfränkischer Wein in Bocksbeutelflaschen auf dem Tisch.
Aber weniger deshalb ist die Begegnung so
anregend. Es ist vielmehr der
Gesprächsgegenstand, der Prozeß des Zusammenwachsens, der sich nicht nur
erfolgreich vollzieht. Jahrsdörfer nennt Gründe aus der Sicht seiner polizeilichen
Tätigkeit vor Ort. Es sei ein folgenreicher Fehler gewesen, die thüringischen
Polizeieinheiten lediglich unter westdeutsche Kommandoführung zu stellen.
Sinnreicher für das Zusammenwachsen wäre es gewesen, halbierte Einheiten auf
beiden Seiten für Wochen und Monate auszutauschen, um voneinander Strukturen,
aber vor allem Denk- und Lebensweisen des Kollegen auf der anderen Seite der ehemaligen Grenze zu erfahren. Wir sind
uns sehr schnell einig, das Beispiel
neuer Struktur in der Polizei und die dabei begangenen Fehler treffen
auch auf andere Bereiche zu, in denen Zusammenwachsen mit Kolonialisieren
verwechselt wurde. Zum Abschluß der aufschlußreichen Gesprächsrunde tragen wir
uns ins Gästebuch der Stadt ein und verabschieden uns von einem interessanten
Gesprächspartner.
Der Weg zum Quartier ist denkbar kurz, denn wir wohnen am
Markt. Am Nachmittag lockt das Café Mozart gegenüber. Am Abend schlagen Horst
SL und Dieter in der „Linde“ doppelt zu: nach den Spätzle mit Gulasch folgen
noch als besondere Spezialität „Blaue Spitzen“: sauer eingelegte Würstchen mit
Zwiebeln und Brot. Sonnabend, 30. September: durch das
Grabfeld zum Fuß des Rennsteigs
Bad Königshofen – Eisfeld, 45 km (691 km)
In morgendlicher Sonne starten wir vor unserem Quartier.
Eine Birkenallee führt uns zur Rokokokirche von Ipthausen, einer
Wallfahrtskirche, deren Deckengemälde mit hervorspringenden plastischen Details
wie herunterhängenden Armen und Beinen unsere Aufmerksamkeit findet.
Die Sonne wird uns den Tag über treu bleiben, wie bestellt
zum besonderen Anlaß, denn heute werden wir Wiedersehen feiern können mit
Ingrid und Volker Barthel, die heute früh in Schwerin aufgebrochen sind und uns
bis zum Ende der Tour begleiten werden. Auf dem Radfernweg Rhön-Grabfeld-Maintal laufen und fahren
wir durch die Ebene des Grabfeldes. Wir werden heute dreimal die Grenze queren.
Zwischen dem bayrischen Alsfeld und dem thüringischen Gompertshausen ist auf
westlicher Seite ein riesiges Kreuz errichtet aus Streckmetall, dem Grenzzaunmaterial. Östlich der Grenze erinnern Bunker, Wachturm, die noch erkennbare
Schneise am Weingartenberg und eine Informationstafel an das Grenzregime. Hinter Westhausen ist es mit der Ebene vorbei. Ein kräftiger
Anstieg führt uns auf die bewaldete Höhe, auf der die Läufer einen
hindernisreichen Cross-Weg und die Radfahrer die Straße nach Seldingstadt
nehmen. Zwischen dem Staufhain und dem Haiberg passieren wir wieder die Grenze
nach Bayern und haben in Bad Rodach die Hälfte der Tagesstrecke hinter uns. Aus
der Bratwurst, mit denen die Radfahrer an einem Parkplatz liebäugeln, wird
nichts. Wir werden etwas später an einem Wanderrastplatz eine Pause einlegen. Wie immer drängt die Zeit. Hinter Grattstadt telefoniert
Ingrid mit dem Eisfelder Bürgermeister, der schon sehnlichst auf uns wartet,
weil er auf gepackten Koffern für einen Kurzurlaub sitzt. Um Zeit zu gewinnen,
wird er uns bis zur Grenze vor Harras entgegenkommen, die gleichzeitig
kommunale Grenze seines Wirkungsbereiches ist. Eine gerade erst drei Tage alte
Verbindungsstraße führt uns wieder nach Thüringen und zu Bürgermeister Gerd
Braun, der uns mit seiner Frau und begleitender Presse begrüßt. Als ob der Bürgermeister ahnte, daß wir bald
Transporterleichterung erhalten werden, deckt er uns mit Präsenten ein, von
denen die Bocksbeutelflaschen am schwersten zu verstauen sind. Die Erleichterung kommt schneller als gedacht. Über Telefon
erfahren wir, daß Ingrid und Volker bereits auf dem Weg von Eisfeld zu uns
sind. Schon von fern sehen wir sie am Ortseingang von Bockstadt winken. Die
Wiedersehensfreude ist bei den Barthels natürlich besonders groß. Das Gepäck der Fahrräder ist schnell verstaut, und das
größer gewordene Team macht sich per
pedes, per Rad und per Auto auf den Weg nach Eisfeld. Die Läufer steuern dort
wie immer das Ziel auf dem Marktplatz an, aber allein. Alle Fahrzeuge fahren
direkt in das Quartier, denn das liegt im Ortsteil Hinterrod-Waffenrod, nicht
nur etwa 7 km von Eisfeld entfernt sondern auch bereits fast in Höhe des
Rennsteigs, zu dem wir morgen hoch
laufen werden. Volker holt die Läufer vom Marktplatz ab, der eine einzige
Baustelle ist und dem es an einem richtigen Rathaus mangelt. „Ich sitze auf dem
Geld“, hatte der Bürgermeister bei seiner Begrüßung seinen Amtssitz über der
Sparkasse beschrieben. Auch die Radfahrer sind endlich nach endlosem Anstieg am
Ziel. Wir genießen die abendliche Sonne und den Blick über die Höhen des
Rennsteiges. Zum Masserberg ist es von hier näher als zurück nach Eisfeld.
Ingrid und Horst SL beschließen deshalb, die Rennsteigtour des kommenden Tages
hier zu beginnen, und sich den Umweg über Eisfeld zu ersparen. Schließlich
haben sie die Höhe bereits bewältigt. Dieters Vorschlag, es ihnen angesichts seiner in
Mitleidenschaft gezogenen Knöchelpartie gleichzutun, stößt bei Horst P. auf
keine Gegenliebe. Also werden wir am kommenden Tag wieder am Marktplatz
starten. Sonntag,
1. Oktober: Lauf auf dem Rennsteig
Eisfeld – Tettau, 37 km (728 km) Von Sonne ist
heute keine Spur, es ist kühl, aber wir laufen uns sehr schnell warm, denn es
geht gleich hinter Eisfeld zunächst langsam aber ab Sachsenbrunn immer
kräftiger die B 281 bergauf. Ingrid und Volker sind uns jetzt ständige
Begleiter, die immer wieder mit ihrem Auto am Wegrand stehen, fotographieren, filmen, Getränke anbieten
und uns informierend und tröstend die gelaufenen Kilometer zurufen. Mit der
Höhe nimmt auch der Nebel zu, der streckenweise auch in Nieselregen übergeht.
In 800 Meter Höhe sind wir an der Werraquelle angelangt, also fast in der Höhe,
in der wir heute im wesentlichen bleiben werden. In Siegmundsburg kommt uns hupend ein Auto entgegen und hält. Die
örtliche Presse fotographiert und bittet uns um ein kurzes Interview. Wenige
Minuten später erreichen wir Limbach. Hier stehen Ingrid und Volker wieder,
aber von den Radfahrern, mit denen wir uns hier treffen wollten, ist weit und
breit nichts zu sehen. Sie wollten bekanntlich abkürzen, hatten aber an einem
Abzweig den falschen Weg gewählt und fuhren bergab statt bergauf.
Für die Läufer kein Grund zum Warten, zumal Kälte
und Nässe Bewegung verlangen. Horst P. und Dieter zweigen hier ab auf den
Rennsteig und laufen die Strecke, die beide vom Rennsteiglauf in umgekehrter
Richtung kennen, nach Neuhaus, der damals mit über 800 Meter Höhe höchst
gelegenen Kreisstadt der DDR.
Am Igelshieb in Neuhaus,
einer großen Wiese, die einst als Startfläche für etwa 6000 Rennsteigläufer
diente, sind wir wieder alle zusammen. Hier startet auch Volker, der uns bis
zum Tagesziel in Tettau begleiten wird. Auch Presse ist wieder da. Wir
verabreden uns mit ihr am Wintersportdenkmal hinter Ernstthal, dort wo ein
breiter Wanderweg nach Spechtsbrunn abzweigt. Von dort ist es nicht mehr weit.
Am Abzweig vom Rennsteig an der Kalten Küche nach Tettau halten wir kurz an
einer Informationshütte, vor der eine Tafel über die ehemalige Grenze auf dem
kurzen Weg nach Tettau Auskunft gibt. Bei der Ankunft vor dem Rathaus in Tettau
sind wir mit Nebel und Niesel unter uns. Also fahren wir gleich weiter. Auch
heute liegt das Quartier außerhalb. Ins 7 km entfernte Langenau geht es abermals bergauf. Die
Radfahrer haben also wieder einen Kanten mehr und werden auch für den kommenden
Tag eine Abkürzung beschließen. Langenau liegt abseits von
der Welt. Bis zur Wende war der Tettauer Zipfel ein Vorstoß Bayerns in das
Thüringer Land bis zum Rennsteig hinauf. Ähnliche Winkellagen ostdeutscher und
westdeutscher Orte hatten wir bereits mehrfach auf unserer Grenztour
kennengelernt und auch die Freude der Bewohner, daß diese Zeit der Abschottung
nun hinter ihnen liegt. In Tettau aber erleben wir
eine Überraschung. Am Abend in der Gaststätte unseres Hotels gesellen sich
Bürgermeister Alfred Schaden und Vorsitzende diverser Vereine zu uns, und wir
kommen wie immer ins Gespräch über alles das, was Grenze und Grenzabbau den
Menschen vor allem natürlich im Grenzbereich bedeutete. Zunächst hören wir von
einem schönen Beispiel des Zusammenwachsens. Der Sektionsleiter vom Tettauer
Skisport Falk Wick arbeitet im
Organisationsstab des Rennsteiglaufes mit und ist sogar Präsidiumsmitglied.
Schließlich haben auch die Veranstaltungen zum Rennsteiglauf längst die Grenzen
überwunden. Wir freuen uns natürlich darüber, zumal unser Gesprächspartner auch
den Ulli Röder kennt, der in Schwerin zum Org.-Büro des Fünf-Seen-Laufes
gehörte und heute für den Rennsteiglauf tätig ist. Doch der Keulenschlag folgte
auf dem Fuße: „Wir Tettauer sind Verlierer der Einheit“, spricht der
Bürgermeister und seine Vorsitzenden nicken. Wieso? „Ja früher kamen die
Westberliner zu uns, weil wir für sie am nächsten dran waren für den
Wintersport. Jetzt macht Thüringen so viel Werbung, daß für uns nichts übrig
bleibt.“ Wieso sie sich nicht an der Info-Hütte am Rennsteig-Abzweig
beteiligen? „Da hätten wir zahlen müssen und außerdem fehlt die stützende Hand
des Landratsamtes in Kronach.“ Und auch die wirtschaftliche Förderung auf
Thüringer Seite grabe ihnen das Wasser ab (Gab es da nicht früher auf
westdeutscher Seite auch eine Förderung, die der Grenzregion zu gute kam? ). Wir reden noch viel, kommen uns dann doch näher, und
schließlich wird uns auch noch versprochen, sich um die Presse am nächsten
Morgen zu kümmern. Montag, 2. Oktober:
thüringisch-fränkisches Wechselspiel
Tettau – Bad Lobenstein, 37 km (765 km) Wir wollen gerade aufbrechen, da kommt überraschenderweise
der Bürgermeister, um sich zu verabschieden, und überreicht uns Bücher zur
Geschichte der Stadt. Ingrid und Volker fahren die Läufer zum Start nach Tettau
hinunter, während die Radfahrer den direkten Weg zum Rennsteig nehmen. Vor dem
Rathaus angekommen noch einmal ein bekanntes Gesicht vom Vorabend: Der
Pressemensch hätte sich verspätet, aber er würde unterwegs auf uns warten.
Letzter Abschied von Tettau und nach wenigen Kilometern aufwärts hat uns der Rennsteig
und hat uns Thüringen wieder, aber nur für wenige Kilometer, denn die lange
Straße, die mit dem Rennsteig nach Steinbach a. Wald führt, liegt schon wieder
auf fränkischem Gebiet. Das Wetter hat sich zwischen Nebel auf der einen Seite
des Rennsteigs und Sonne auf der anderen für die freundlichere Variante
entschieden. Hinter Steinbach an der Luthergedenktafel sind Radfahrer und
Läufer wieder zusammen. Verlassen müssen uns hinter Ziegelhütte allerdings die
Autofahrer. Während sie den Umweg über Lehesten nehmen, läuft und fährt der
Rest direkt auf dem Schönwappenweg mit seinen vielen historischen Grenzsteinen
am Wegesrand nach Brennersgrün. Der Weg führt auch heute direkt an der Grenze
zwischen Thüringen und Franken entlang, die schließlich nach Süden abbiegt.
Hinter Rodacherbrunn beim Kirchhügel verläßt uns auch bald der Rennsteig, der
es nun auch nicht mehr allzu weit hat bis zu seinem Ende in Blankenstein. Wir laufen zwar vom Rennsteig herunter, aber noch immer sind
beachtliche und lange Steigungen zu bewältigen, bevor dann endlich der Abstieg
nach Bad Lobenstein folgt. Auf dem Markt müssen Almut und Ingo Langer,
Schulfreund von Dieter und ebenfalls Mediziner, für die Repräsentanz
Lobensteins sorgen, denn weder Bürgermeister noch Presse sind da, obwohl Dieter
im Urlaub vor wenigen Wochen sowohl mit dem Bürgermeister als auch dem
Ortspressechef gesprochen hat. Auf unsere Nachfrage im Redaktionsbüro gleich um
die Ecke weiß man von nichts, der Chef sei im Urlaub und hätte nichts
hinterlassen. Eine Bildnachricht aber könne man noch machen. Das Quartier
entspricht dem Empfang. Daß noch nicht alles auf neuestem Standard sein kann,
ist verständlich, daß aber Dreck und unzählige Spinnnen in allen Ecken auf
keinen Fall dazu gehören, dürfte ebenso selbstverständlich sein. Almut und Ingo aber vertreten ihre Stadt würdig und freundlich. Nach landschaftlich reizvoller Fahrt über Saalburg am
Bleilochstaussee laden sie uns nach Raila in den Lemnitzer Hof zum Abendessen
ein. Barthels hatten im Urlaub hier schon mit Langers schöne Stunden bei
opulentem Mal verbracht und freuten sich schon auf einen weiteren Besuch, den
auch die anderen Grenztourteilnehmer in guter Erinnerung behalten werden. Dienstag, 3. Oktober: Die letzte Etappe
Bad Lobenstein – Dreiländereck, 51 km (816km) Die Sonne strahlt, es wird ein schöner Tag. Zum letzten Mal
treffen wir die morgendlichen Vorkehrungen, die uns inzwischen schon zur
Gewohnheit geworden aber auch trotz Transporterleichterung und fürsorglicher
Betreuung durch Ingrid und Volker langsam lästig sind. Das keimige Quartier
verlassen wir nur allzu gern und machen uns zum letzten Mal auf den Weg zum
Start, wie immer natürlich auf dem Markt vor dem Rathaus, das hier heute am
Feiertag erst recht schweigsam bleibt. Aber Langers sind natürlich da und retten das Ansehen ihrer
Stadt, mit der sie sich offensichtlich ebenso verbunden fühlen wie mit uns. Das
spüren auch Horst P. und Schwarz-Lineks, die munteren Plaudereien bis zum Start
belegen das jedenfalls eindeutig. Nun lassen wir das Rathaus doch noch in Erscheinung treten:
wir nehmen den Glockenschlag der dortigen Turmuhr als Startzeichen,
verabschieden uns von guten Freunden und laufen unserem Ziel entgegen. Heute stehen uns keine Orientierungsschwierigkeiten bevor.
Ingrid und Dieter hatten im Urlaub gemeinsam mit Marion und Thomas die letzte
Etappe erkundet. (Ingrid hatte Dieters Lauf auf dem Fahrrad begleitet, Thomas
war einen Teil der Strecke mitgelaufen und Marion sorgte dafür, daß das Auto
für den Rücktransport am Dreiländereck steht).
Außerdem wird uns Laufgruppenleiter Manfred Meißner aus Regnitzlosau auf
der Strecke entgegenkommen, um uns auf dem letzten Teil der Strecke einen
besseren Weg zu zeigen, als Ingrid und Dieter ausprobiert hatten. Heute stehen uns noch einmal tüchtige und vorallem lange
Anstiege bevor. Das geht schon munter los, als wir am Lemnitzhammer die Saale
erreichen, die bald weit unter uns liegt. Es bleibt ein Auf und Ab über Harra
bis hinunter nach Blankenstein im Saaletal. Hier im ehemaligen
500-Meter-Grenzstreifen darf nach dem Fall der Mauer nun wieder der Rennsteig
beginnen, der über 160 Kilometer auf dem Kamm des Frankenwaldes und des
Thüringer Waldes bis nach Hörschel nordwestlich von Eisenach führt. Steil geht es wieder aufwärts nach Blankenberg. Auf dem Weg
nach Pottiga werden wir belohnt mit dem Blick über das weite Saaletal mit den
Erhebungen des Frankenwaldes. Auf dem Weg weiter nach Sparnberg windet sich die
schmale Straße wie die parallel fließende Saale. In dem kleinen thüringischen
Grenzort machen wir einen kurzen Abstecher in die Dorfkirche „St.Simon und
Judas Thaddäus“ mit Resten gotischer Fresken und einer Ausstattung aus
naturbelassenem Holz. Die 1994 begonnenen Restaurierungsarbeiten haben schon
gute Fortschritte erzielt, um die schlichte Schönheit der Kirche wieder
erlebbar zu machen. Die kleine Saalebrücke bildet die Grenze zum benachbarten
bayrischen Rudolphstein. Hier steigt die Straße endlos über die A 9 hinweg, bis
es endlich hinab geht nach Tiefengrün. Nur die Saale und bis vor zehn Jahren
die Grenze trennt den Ort von der thüringischen Stadt Hirschberg. Die Brücke,
im 2. Weltkrieg zerstört, ist seit drei Jahren wieder aufgebaut, wovon
allerdings auch aktuelles Kartenmaterial noch keine Notiz genommen hat. In Hirschberg
geht es sehr steil bergauf, bis der
flacher werdende Anstieg an der Querung der B 2 bei Juchhö beendet ist. Gleich
hinter der Kreuzung erwartet uns ein großes Polizeiaufgebot. Es ist natürlich
nicht wegen uns erschienen. Im 3 km entfernten Mödlareuth wird heute wie in
jedem Jahr zum Einheitstag eine Rieseneinheitsparty der CSU/CDU vonstatten
gehen mit den Ministerpräsidenten von Bayern und Thüringen Stoiber und
Vogel. Hier in Mödlareuth bestimmte die
Grenze das Ortsgeschehen auf besonders schlimme Art. Das heute 50-Seelen-Dorf
ist seit alters her teils bayrisch und teils thüringisch. Schule und Wirtshaus
lagen in Thüringen, die Kirche im benachbarten bayrischen Töpen, „Grüß Gott“
auf der einen und „Guten Tag“ auf der anderen Seite konnte nichts an der
Gemeinsamkeit ändern, in der sich das dörfliche Leben abspielte bis zur
hermetischen Trennung durch die Mauer, die sich hier wie in Berlin durch das
Dorf zog und die auch zum Beinamen „Klein Berlin“ führte. Obwohl die politischen Spitzen erst am Nachmittag erwartet
werden, ist jetzt bereits Hochbetrieb auf den Straßen. Bei unserer Ankunft in
Mödlareuth ist der Volksrummel im vollen Gange. Mehr zufällig wird das
bayrische Fernsehen in diesem Trubel auf uns aufmerksam, dreht ein bißchen und
stellt Fragen. Die Museumsleitung hat in Erwartung der hohen Gäste anderes um
die Ohren, als uns zu begrüßen. Ingrid SL wird von einer Weißwurst essenden
Frau gefragt, ob sie auch dafür sei, daß es wieder KZ´s gäbe. Wir machen uns
schnell wieder auf unseren weiteren Weg, zumal uns unbegreiflich ist, wieso auf
Videowänden und Transparenten Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner
betrieben, nicht aber das seit 10 Jahren wiedervereinte Deutschland gefeiert
wird. Zwei Wege führen weiter für die nächsten Kilometer, denn
Horst P. war bereits losgelaufen, als Dieter mit Ingrid SL noch Ausschau
hielten nach Informationsmaterial. Horst SL jagt mit dem Fahrrad hinterher und
fährt mit ihm weiter. Kurz vor Hohendorf aber sind wir wieder alle zusammen.
Hinter Schollenreuth queren wir wieder die A 72, die nach Plauen führt, und
laufen über Feilitzsch nach Trogen. Hier begrüßt uns Manfred Meißner mit seiner
Frau, und hier steht Volker in den Startlöchern, um bis zum Ziel mitzulaufen.
Weiter geht die Tour über Ulitzsch auf abwechslungsreicher Strecke bergauf und
bergab, zum Teil über Postenwege der Grenze zwischen Bayern und Sachsen. Über
Sachsgrün und Gassenreuth erreichen wir Posseck. Hier wollten wir eigentlich
beim jährlich stattfindenden Vogtlandtreffen der SPD zum Einheitstag den
Abschluß unseres Unternehmens gebührend feiern, aber ausgerechnet im
Jubiläumsjahr fällt dieses Treffen aus. So nutzen wir wenigstens den
Gedenkstein zur Einheit zu einem Gruppenfoto, queren ein letztes Mal die Grenze
vor dem bayrischen Nentschau und laufen unsere letzten Kilometer zum Ziel am
Dreiländereck. Wir haben es geschafft! Großen Bahnhof gibt es nicht auf der umwaldeten Wiese am
Grenzbach zwischen Tschechien, Sachsen und Bayern. Ingrid war vorausgefahren,
auch Manfreds Frau ist bereits da. Volker, selbst noch verschwitzt vom Lauf,
hat eine Überraschung bereit: er überreicht den vier Teilnehmern der
Grenzlauftour am Computer gefertigte Urkunden als Erinnerung an eine
Herausforderung, der sich die Läufer und Radfahrer gemeinsam erfolgreich stellten.
Wenig später begrüßt uns eine Journalistin der Frankenpost. Wir waren auf den
letzten Kilometern wohl doch schneller als erwartet. Für die Zielankunft hat sich Manfred etwas Originelles
einfallen lassen: Jeder Akteur erhält ein Set Dreiländerbier: tschechisches
Budweiser, sächsisches Radeberger und bayrisches BürgerBräu. Wir brechen auf. Wir verlassen das Ziel, das wir nach drei
Wochen der körperlichen Herausforderung, aber auch der erlebnisreichen
Begegnungen mit Menschen und Landschaften erreicht haben und dem unser ganzes
Sinnen und Trachten in der Vorbereitung und während des Laufs galt. In Regnitzlosau beziehen wir zum letzten Mal Quartier. Den
Abend verbringen wir gemeinsam mit Manfred und seiner Frau, und auch
Bürgermeister Gerhardt Schiller, der am Nachmittag natürlich in Mödlareuth sein
mußte, gesellt sich dazu. Der Abend und der Grenzlauf 2000 klingen aus beim
Plaudern und beim Gedankenaustausch. Am nächsten Morgen treten wir die Heimreise an.
Schwarz-Lineks mit Rädern nach Hof und weiter mit der Bahn, die Läufer im Auto
mit Volker und Ingrid. Der Grenzlauf ist nun endgültig Geschichte, aber er wird
allen Beteiligten, auch denen, die es auf einzelnen Etappen und in den
Etappenorten waren, unvergeßlich bleiben. |